JOHANNA AMELIE

„Musik bewegt, Musik ist Austausch. Mit Musik will ich eine Verbindung zu anderen herstellen,“ sagt Johanna Amelie. Sie ist in den 1990er Jahren aufgewachsen und Musik gehört schon immer zu ihrem Leben. Ihre Großmutter, eine Harfinistin, bildete mit ihrem Großvater, der Cellist war, ein Duo. Die Schumann-Platten ihrer Großeltern hat Johanna Amelie rauf und runter gehört. Ihr Vater ist Arzt und zugleich passionierter Musiker. Wenn er nicht operiert, spielt er Viola im World DoctorsOrchestra, ist im Quartetto Vasculare aktiv.

Ihre Mutter war in der klassischen Musik unterwegs, spielte Geige und Bratsche und hat die kleine Amelie mit diversen Instrumenten vertraut gemacht. So hat sie ganz selbstverständlich schon in der frühen Kindheit Klavier, Geige, Gitarre, Bratsche, Flöte und Saxophon erlernt.

 Musik zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Johanna Amelie. „Es war kein rebellischer Akt für meine Familie, als ich anfing, Musik zu studieren. Ein Stück weit vielleicht rebellisch, weil ich nicht klassische Musik gewählt habe“, präzisiert sie. Klassische Musik ist für Johanna Amelie vergleichbar mit Hochleistungssport, es geht um Perfektion. Sie sucht etwas anderes: Sie will selber komponieren und Liedtexte schreiben. „Joni Mitchell kann Sachen so ausdrücken, wie das niemand sonst ausdrückt. „Diese Einzigartigkeit zusammen mit so einer Authentizität, das hat mir schon immer so gut gefallen.“ In ihrer Musik finden sich unterschiedliche Einflüsse: eine Prise Folk, eine Prise Dreampop und eine Prise Indie. 

Johanna Amelie geht als Musikerin ihren eigenen Weg. Sie ist Multiinstrumentalistin, Sängerin, Songschreiberin, Komponistin, Produzentin und begnadete Live-Performerin. Sie arbeitet an ihrer Solokarriere, sieht sich aber nicht als Einzelkämpferin. „Ich bin Teil einer Szene“, sagt sie resolut und fährt fort: „Ob es nun Backing-Vocals, Keyboard- oder Gitarrenklängen sind – ich will mich auch in anderen Projekten einbringen und mitmachen.“ Sie arbeitet gern mit Musikerinnen zusammen, tauscht sich aus, will die Leidenschaft mit anderen teilen. 

Ihre Vorbilder sind Frauen mit einer starken Persönlichkeit: Regina Spektor, Joni Mitchell und PJ Harvey. „Frauen, die was sagen wollen oder Gedichte schreiben,Instrumente spielen und Musik erfinden“, erklärt sie. Das hat Johanna Amelie schon immer interessiert. Und überhaupt das Thema Frauen treibt Johanna Amelie um. Sie setzt sich dafür ein, dass Frauen in der männerdominierten Musikwelt wahrgenommen werden und sichtbar sind. 

„Ist man Musikerin oder Produzentin“, so Johanna Amelie, „kann es passieren, dass man trotzdem ,nur’ als ,die Sängerin’ wahrgenommen wird. Beim Soundcheck oder auf Tour ist frau in Deutschland oft in der Unterzahl.“ Das möchte sie unbedingt ändern.

 Johanna Amelie ist die Sichtbarkeit von Frauen in der Musikbranche ein Anliegen. So gründete sie zusammen mit Julia Zoephel im Jahre 2017 das V-Breakfast. Ein Treffen von und für Berlinerinnen, das den Austausch und kreative Begegnungen zwischen Künstlerinnen möglich macht. Mittlerweile hat die Community 500 Mitglieder, die in Kontakt stehen. Auf ihrem neuen Album hat Johanna Amelie überwiegend mit Produzentinnen, Instrumentalistinnen und Toningenieurinnen zusammengearbeitet, die sie unter anderem beim V-Breakfast kennenlernte. 

Ihre erste Platte „Cloud In A Room“ bringt sie 2014 mit dem Berliner Indie-Label Solaris Empire heraus. Mit jeder Veröffentlichung versucht sie sich weiter zu entwickeln, im Texten und „eine Message-Rüberbringen“ besser zu werden. 2018 folgt „Distance“, das die Aufmerksamkeit des englischen Labels „Zero Hours Records” auf sich zieht – das Label des Kylie Minogue Produzenten Andy Chatterley aus London. Johanna Amelie unterschreibt den Plattenvertrag und verbringt Zeit in London, um dort das Album fertigzustellen und die Platte in den Abbey Road Studios mastern zu lassen. Auch die „One Moon“-EP kommt in England gut an, Robert Elms vom Radio BBC London spielt  den Song „Bridge“ wochenlang in seiner Sendung. 

Englisch ist für Johanna Amelie die Musiksprache. „Ich glaube, das liegt an meinen musikalischen Vorbildern und Einflüssen, die hauptsächlich aus dem nordamerikanischen oder dem englischsprachigen Raum kommen“, erklärt sie und fährt fort: „Meine Songs schreibe Ich oft auf Reisen. Wenn Ich viel Zeit im Ausland verbringe, kommuniziere Ich meist auf Englisch und so ändert sich auch meine Art, Dinge, die ich aufschnappe, in Worte zu fassen.” Englisch ist eine globale Sprache, damit kann sie auch Hörerinnen und Hörer außerhalb Deutschlands erreichen. In Berlin ist sie ohnehin Teil einer sehr internationalen Szene, in vielen Bandproben wird auf Englisch kommuniziert.

 Das Album „Beginnings“

 Diese Veröffentlichung markiert einen Wendepunkt im Leben von Johanna Amelie. 2019 war ein Jahr der Trauer, des Schmerzes und des Loslassen-Müssens, ein Jahr überschattet vom Tod ihrer Mutter. Mit „Beginnings“ will sie einen Neuanfang starten, ihr Leben aktiv in die Hand nehmen, sich verändern. Sie sucht nach einer „neuen Art der Freiheit, Klarheit, Schönheit, Präsenz, Akzeptanz und Stärke“, wie sie es ausdrückt. Sie will aus eigener Kraft vorankommen. Und eben diese Geisteshaltung reflektiert „Beginnings“.

 „Alle Songs haben eine Art Aufschwung, der eben dadurch entsteht, dass eine Phase im Leben endet und etwas Neues beginnt“, sagt Johanna Amelie. Jeder Song hat eine eigene Atmosphäre. Es gibt melancholische Songs, andere sind eher sphärisch, verspielt, aufbrausend. Mal sind Synthesizer, mal wieder Geigen zu hören. Auf den Vorgängern hat Johanna Amelie hauptsächlich Gitarre gespielt. Dieses Mal hat sie wieder mehr zum Klavier als Hauptinstrument zurückgefunden. Als Gäste sind auf dem Album Alin Coen, Moritz Krämer und Tristan Brusch zu hören.  

Der Opener „Hammock“ ist ein Lied über das Genießen des Moments. „Ein Versuch von mir“, sagt Johanna Amelie, „so oft wie möglich im Moment zu bleiben und nicht verlorenzugehen: in der Zukunft, in der Vergangenheit, in den Schwierigkeiten, in den Herausforderungen.“ Es ist wichtig, zu merken, dass die Welt tragisch und vergänglich ist, trotzdem sollen auch friedliche Momente und die bewusste Wahrnehmung von schönen Erlebnissen Platz im Leben finden. Johanna Amelie ist Meisterin im Schaffen besonderer Atmosphären und Stimmungen. Einfühlsam startet das Stück mit einem wunderbaren Flötensolo. Die Flöten ziehen sich durch den gesamten Song. Es tauchen Geigen und immer wieder die unverwechselbare, glasklare Stimme von Johanna Amelie auf. „Ich mag auch selber gerne solche Songs, wo man merkt, die Künstlerin oder der Künstler hat nicht nur ihr oder sein Tagebuch vertont, sondern darin gelesen, auch noch andere Tagebücher gelesen und globale Erfahrungen mit eingebracht. Und dann aus diesem Mischmasch etwas völlig Neues daraus entwickelt“, erklärt die Künstlerin. Das gelingt Johanna Amelie. Sie schaut über den Tellerrand und reichert ihre Songs mit vergleichbaren Erlebnissen an. Schließlich sollen andere sich darin wiedererkennen und etwas damit verbinden können. Das hat sie mit dem Gedicht von Rainer Maria Rilke gemacht, auf das sie für den Song „Hands“ (Hands Reprise erscheint nur als Bonustrack auf Vinyl) zurückgreift. Rilke hat das Gedicht der wesentlich älteren Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé gewidmet, als er Hals über Kopf in sie verliebt war:

„Ich weiß, daß du aus Einsamkeiten

dem großen Glück entgegenschreiten

und meine Hände finden wirst.“

(Rilke an Lou am 31.5.1897)

 Beeindruckt von diesem über 100 Jahre alten Rilke-Gedicht lässt sich Johanna Amelie anregen und schreibt dazu eine eigene Geschichte. Sie beschäftigt sich mit den Themen Krise und Trost. Wie sieht Trost in unserer heutigen Zeit aus, wer tröstet einen in schwierigen Zeiten, wenn man schon erwachsen ist, wer ist für einen da, fragt sie sich. So ist allmählich dieser Song entstanden. Mit Synthesizern, Schlagzeug und einem ausgefeilten Arrangement hat Johanna Amelie in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Johannes Wehrle dem Song eine Leichtigkeit verliehen. 

Augen und Ohren offen halten, im Fluss sein – das Motto der dreißigjährigen Künstlerin, die viele Inspirationen auf Reisen findet. „Public Pain“ schreibt Johanna Amelie direkt nach einer Südafrika-Reise. Sie ist schockiert von der politischen Zerrissenheit des Landes und verbindet sich beim Schreiben mit den eigenen Gefühlen von innerer Zerrissenheit. Eindrücke, die sie dort gesammelt hat: die Narben der immer noch präsenten Kolonialisierung finden oft auch metaphorisch ihren Weg in die Songs. „Es geht um verschiedene Arten von Schmerz, den man in der Öffentlichkeit sehen kann“, erklärt sie. „Obwohl uns dieser Schmerz manchmal direkt anspringt, sind wir gut darin geworden, ihn zu verdrängen und wegzusperren“, fügt sie hinzu. Dieses Gefühl der Ohnmacht drückt sie musikalisch durch leichte, überraschende Tonartwechsel aus, die an Kompositionen von Weyes Blood und Judy Collins erinnern.

 Johanna Amelie hat nicht nur ihre Kolleginnen im Blick. Das Thema der gesellschaftlichen Position von Frauen im Allgemeinen liegt ihr sehr am Herzen. So ist der Song „Yes“ ­– ein Aufruf unter Freundinnen: Ja, wir sind füreinander da! Ein Ja für die gegenseitige Unterstützung in schwierigen Zeiten. Als Johanna Amelie den Song schreibt, hat sie den Corona-Lockdown und die Auswirkungen des eingeschränkten Lebens auf das menschliche Miteinander vor Augen. Sie beobachtet eine schnelllebige Welt, die für gesellschaftliche Veränderung viel Zeit benötigt.  Johanna Amelie appelliert an den Gemeinschaftssinn und die Solidarität.  Sie hat die E-Gitarre selbst eingespielt, Matze Pröllochs (von Me & My Drummer) begleitet sie trommelnd. Das Ergebnis: etwas Bejahendes und voller Leben. Vorbild ist hier die kanadische Sängerin und Gitarristin Leslie Feist mit ihrem Album „Pleasure“.  Wieder mit einer Reise verbunden ist der Song „Norway“. Hier geht es um die letzte Reise von Johanna Amelie mit ihrer Mutter. Kurz danach ist diese verstorben. Momente voller intensiver Gespräche und eindringlicher Erlebnisse, die sie dokumentieren, festhalten und so verewigen möchte. Ein Abschiedsschmerz, den sie hier verarbeitet, eine wichtige Erinnerung. Es geht ihr um eine szenenhafte Stimmung – atmosphärisch dicht. Mit sicherem Gespür hat Johanna Amelie hier zusammen mit der Produzentin Luisa Ortwein eine vielschichtige Klangcollage kreiert: Angefangen hat sie zunächst mit zwei Akkorden auf dem Keyboard und hat dazu gesungen. Ihr schwebte eine ambient-traumhafte Stimmung vor. Dann sind noch Fieldrecordings vom norwegischen Regen und Percussion-Aufnahmen dazugekommen. Und immer wieder reißt hier die unverkennbare, gefühlvolle Stimme von Johanna Amelie die Hörerinnen und Hörer mit. Inspirationen auf Reisen finden, das trifft auch für „Mountains“ zu. Ein intimer Song: ein Gespräch mit der Natur über das Loslassen. Die Filmemacherin Luisa Langenbeck und Johanna Amelie sind nach Kalifornien gefahren, waren im Joshua Tree Park und in Los Angeles. Dort haben sie das Video für den Song Moon gedreht. Entstanden ist „Mountains“ inmitten der amerikanischen Wüste, als Johanna Amelie und Luisa Langenbeck dort ein Haus mieteten in vollkommener Einsamkeit, weit und breit war niemand zu sehen. Tagsüber spielte Johanna Amelie Gitarre in der prallen Sonne und kreierte dort den Song. 

Die Songs auf dem Album „Beginnings“ sind Zeitzeugnisse, rütteln wach, appellieren zum Mitmachen und zur Solidarität. Sie regen zum Nachdenken an. Mal poetisch, mal dokumentarisch, mal nachdenklich – Johanna Amelie findet die richtigen Worte,Metaphern und die passenden musikalischen Ausdrucksformen, um die Hörerinnen und Hörer in ihr Universum zu ziehen.

(Marlene Küster)